DER STONEMAN GLACIARA AN EINEM TAG

Ein Tourenbericht von Hannes Genze

Als ehemalige Team-Partner blicken Hannes Genze und Andi Kugler auf eine äußerst erfolgreiche gemeinsame Zeit im Rennzirkus zurück. Aber auch nach der Profi-Karriere suchen die beiden Freunde extreme sportliche Herausforderungen. Nach einer „außergewöhnlichen Tour“ im Jahr 2019, reizte sie 2020 der Stoneman Glaciara. „127 km und 4.700 spektakuläre Höhenmeter zwischen Gletschern, zahllosen 4.000ern und der faszinierenden Mystik jahrhundertealter Bergdörfer − das gibt es nur beim Stoneman Glaciara.“ Klingt vielversprechend und genau nach der Kragenweite der beiden. Natürlich schafften Hannes und Andi es auch dieses Mal wieder, ein paar Kilometer und Höhenmeter obendrauf zu packen. Aber beginnen wir von vorn:

Das zweite September-Wochenende war für unsere „Tour de Force“ angesetzt. Als Residenz für die Nacht würde uns der Camper meines Vaters zur Verfügung stehen, der uns als moralischer Beistand begleitete. Am 11. September beginnt unser Abenteuer und wir reisen über den Grimsel an. Um uns direkt an die Verhältnisse vor Ort zu gewöhnen, starten Andi und ich noch am selben Tag eine Eingewöhnungstour (gut 40 km). Mein Vater fährt derweilen zum Campingplatz in Grengiols im Rhonetal und schlägt das „Basis-Lager“ auf.

Mit leichtem Gepäck beginnen wir um 7:00 Uhr in der Früh den Stoneman Glaciara am darauffolgenden Tag. Nachdem wir zuerst vier Kilometer die Talstraße bergab rollen müssen, steigen wir am tiefsten Punkt in den Stonemantrail ein. Prinzipiell ist ein Einstieg natürlich überall möglich. Wir wollen aber sämtliche Höhenmeter mitnehmen und setzen uns den Aletschblick als Highlight zum Schluss. 

Erster Anstieg, direkt vertan: Wir folgen einer Beschilderung, die eine andere Route ausweist. Als wir den Irrtum bemerken, stellen wir uns sofort die Frage: Abbruch und am nächsten Tag noch einmal versuchen oder zurück auf den Track und durchziehen? Da es am Ende der Route eine gute Möglichkeit zum Abkürzen gibt, entscheiden wir uns für Option zwei. Dank der falschen Abzweigung haben wir uns 12 km und 150 Höhenmeter extra eingehandelt. Gegen Ende des gewaltigen Anstiegs wird die Luft bereits recht dünn. Andi hadert mit seiner Verfassung, doch der Blick auf dem Breithorn (2451 m / Checkpoint 1) entlohnt jede Mühe und lässt alle Strapazen in den Hintergrund rücken. Auf der technisch einfachen Abfahrt ins abgelegene Binntal sehen wir in unmittelbarer Nähe drei Steinadler vorbeiziehen. Atemberaubend dem großen Greifvogel in seinem natürlichen Habitat zu begegnen. Weiter unten ist bereits der Almabtrieb in vollem Gang und wir bleiben von ein paar unschönen Spritzern auf unseren Klamotten nicht verschont. 

Im Dorfladen von Binn (Checkpoint 2 für uns) versorgen wir uns für die nächsten Kilometer. Nach einem recht einfachen Abschnitt das Tal hinauf, erreichen wir bei Reckingen die Mitte der Strecke (unser Checkpoint 3). Da wir gut in der Zeit liegen, gönnen wir uns eine „richtige Mittagspause“ und Hähnchen-Curry. Gut zwanzig Minuten nachdem wir wieder im Sattel sitzen, führt uns ein Wanderpfad steil bergauf nach Bellwald (Checkpoint 4). Die Abfahrt nach Fieschertal gestaltet sich technisch anspruchsvoll. Kurz darauf folgt ein weiterer sensationeller Anstieg. Mittlerweile sind wir sechs Stunden unterwegs und mühen uns die Schotterstraße zur Fiescheralpe hoch. Andis Magen rebelliert und zwingt uns zu einer Pause. Nach der Pause läuft es auch bei mir zunehmend schlechter. Als wir endlich oben sind, brauchen wir dringend Zucker.

Wir versorgen uns mit einem Liter Holundersirup, so dass wir unsere Flaschen auch nach dem kurz bevorstehenden Ladenschluss mit Quellwasser füllen können. Durch einen Tunnel auf der hochalpinen Schleife zur Gletscherstube Märjela (Checkpoint 5) kommen uns viele Wanderer entgegen. Während wir noch etwas Wegstrecke vor uns haben, haben sie ihren Tag bereits hinter sich. Endlich belohnt uns der Blick auf den Gletscher. Die größte Motivation für einen Alpinisten. Nur noch 350 Höhenmeter! Doch anstatt auf Schotter, steht uns auf etwa der Hälfte ein Felswanderweg zur Moosfluh bevor. Ein ständiger Kampf: Fahren oder doch besser laufen. 
 

Unseren letzten Checkpoint erreichen Andi und ich um 18:20 Uhr. Mittlerweile sind nicht nur unsere Energiespeicher kurz vor dem Ende sondern auch der Akku meines Handys, mit dem ich den ganzen Tag navigiert und fotografiert hatte. Für die telefonischen Koch-Instruktionen für das Abendessen (Steinpilz-Risotto) im väterlichen Basis-Lager reicht es dann aber doch noch. Hier oben treffen wir zum ersten Mal an diesem Tag auch andere Biker, die ebenfalls auf dem Stonemantrail unterwegs sind. Keiner jedoch mit der Schnapsidee, die gesamte Strecke an einem Tag zu bewältigen. 

Nach dem malerischen und faszinierenden Panorama folgt eine geniale Abfahrt, die wir nach den Strapazen von über neun Stunden mit etwas gedrosseltem Tempo, aber in vollen Zügen genießen. Dennoch „kassieren“ wir etliche Biker, die auf abfahrtslastigeren Rädern unterwegs sind. Mit schmerzenden Armen machen uns die letzten 300 Tiefenmeter auf Asphalt nichts mehr aus. Die Runde ist geschafft!

Wir rollen die vier Kilometer auf der Talstraße bis zum Campingplatz. Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir nach knapp zehn Stunden im Sattel und 12,5 Stunden „auf Tour“ unser Ziel. 144,5 km und 5009 hm liegen hinter uns. Historisch sagt Strava. Ein weiteres Abenteuer ist Geschichte. Natürlich planen wir bereits die nächste Tour. Denn wie jeder weiß: Nach der Tour ist vor der Tour! Die „normale“ Ausfahrt (5 Stunden, 62 km, 2600 hm) am Folgetag war übrigens auch schön.